Zur Motivation hinter romkablog siehe auch hier.
1990 hat es mich erwischt. Der Bus unserer Reisegruppe kam aus Uschhorod, fuhr gegen Abend im Lemberger Zentrum ein. Dort endeten gerade Studentenproteste gegen etwas, das in Kyjiw oder Moskau passiert war. Hungerstreik, Stirnbänder. Junge, entschlossene Gesichter. Massen strömten an unserem Bus vorbei.
In den nächsten zwei Tagen, als wir duch die Stadt liefen, hielt die Aufgeregtheit an. Vor der Oper hatte man gerade das Lenindenkmal abgerissen — zum Vorschein kam ein Fundament, das offensichtlich aus zerstörten Grabsteinen von christlichen und jüdischen Friedhöfen bestand. Die Inschriften waren noch lesbar: polnisch, ukrainisch, deutsch, hebräisch. Was für eine Symbolik! Den ganzen Tag scharten sich die Menschen um die Baustelle und die Arbeiter mit den Preßlufthämmern. Wir — immer gut erkennbar als Touristen mit westlicher Kleidung und Kamera um den Hals — wurden angesprochen, angefaßt, nach vorne gezerrt: „Fotografiert das! Erzählt davon im Westen! Lenin stand auf Grabsteinen!“
Das war eine Momentaufnahme von vielen. Es ließ mich nicht mehr los. Die aufgeregten Zeiten hielten nur kurz an, wandelten sich in Alltag. Ich durfte streckenweise daran teilnehmen. Wanderungen in den Karpaten, Reisen nach Odessa, Kyjiw, die Geburt meines Patenkindes 1995, Kindergarten, Schule, Hausaufgaben. Großeltern starben, Cousinen heirateten.
In den 90ern habe ich oft überlegt, ganz in die Ukraine zu gehen. Mir fehlte der Mut dazu. Vielleicht kommt er ja irgenwann noch.
P.S.: 1993 habe ich zwei Monate bei Bekannten in Uschhorod gelebt. Das achtjährige Mädchen, das ich damals regelmäßig aus der Grundschule abgeholt habe, stand vor ein paar Wochen für ihre Zukunft auf dem Maidan.